INPUT-Talk – 5 Fragen über Gewalt

am Bischöflichen Internat Albertinum in Gerolstein

Das ehemalige Bischöfliche Internat Albertinum heute

Die Redaktion des Online Magazins Input Aktuell hat mir 5 Fragen zum Thema Gewalt am Albertinum gestellt:

Hier sind meine Antworten:

INPUT: Wie sehen Sie die Situation im Vergleich zwischen sexuellem Missbrauch und allgemeinen Gewalterfahrungen im Kindes- und Jugendalter?

Marzellus Boos: Ich empfinde die Verengung der öffentlichen Debatte auf das Thema sexualisierte Gewalt an Kindern greift zu kurz. Der Klerus zeigt sich beim Thema sexuelle Übergriffe von Priestern an Schutzbefohlenen inzwischen demonstrativ zerknirscht und reumütig, während man beim Thema exzessiver physischer und psychischer Gewalt von Gottesmännern an Kindern nach wie vor den Ball flach hält?

Mit Blick auf die ganz „normalen“ Gewaltopfer katholischer Priester ist das völlig unakzeptabel. Schaut man sich die Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und das lebenslange Leiden der Prügelopfer in kirchlichen Heimen an, dann gibt es bezüglich der Langzeitwirkungen solcher priesterlicher Schändlichkeit keine nennenswerten Unterschiede.

Probleme in der Identitätsentwicklung, lebenslange Selbstwertprobleme, Panikattacken und Angstzustände, Vertrauensprobleme in Beziehungen, Misstrauen in andere Menschen, Schlafstörungen, Alpträume, Stimmungsschwankungen, Essstörungen, Depressionen, Scham- und Schuldgefühle, Verzweiflung, Ohnmacht, schwer zu kontrollierende Aggression, Wut und Rachegedanken, Suizidgedanken, Psychosomatische Symptome, … . Die psychologische Diagnose ist bei beiden Opfergruppen identisch. Da darf man keinen Unterschied machen.

INPUT: Können Sie Ihr persönliches Leid, was Ihnen angetan wurde, kurz beschreiben?

Marzellus Boos: Das Gerolsteiner Albertinum wurde zu meiner Zeit von einem Priesterdirektor und einem Präfekten geführt, die neben ihren administrativen Aufgaben die Erziehungsverantwortung für 90 Jungen im Alter von 9 bis 19 Jahren hatten. Keiner der beiden Männer hatte eine pädagogische Qualifikation und auch keine charakterliche Eignung für eine Erziehungsaufgabe. Das einzige Erziehungsmittel war Gewalt in jeglicher Form, angefangen bei Ohrfeigen und Kopfnüssen bis hin zu Stockschlägen und ganzen Serien von bis zu 20 und mehr Schlägen ins Gesicht. Hinzu kamen Herabsetzungen und Demütigungen, Essenszwang bis zum Erbrechen, Freiheitsentzug. Gegen Gewalt zwischen Schülern wurde nicht eingeschritten. Ein echtes Freizeitangebot gab es nicht. Stattdessen 3 Stunden Silentium, absolutes Redeverbot, täglich, aber keinerlei Förderung und keine Hilfe bei schulischen Problemen. Keinerlei emotionale Zuwendung, keine “Seelsorge”, bei schulischen Problemen Strafen statt Hilfe, Kontrolle rund um die Uhr, keinerlei Trost bei Schicksalsschlägen. Als meine Mutter nach 5-jährigem Krebsmartyrium starb – ich war 14 Jahre alt – kein Trost, kein Beileid, kein Mitleid, stattdessen kalte, emotionslose Sachlichkeit.

INPUT: Mit welchen Strategien verarbeiten Sie die schrecklichen Erlebnisse?

Marzellus Boos: Über 5 Jahrzehnte hinweg habe ich ziemlich klar meine Kindheits- und Jugenderfahrungen verdrängt. Für eine aktive Auseinandersetzung mit dem Geschehen im Albertinum hatte ich keine Ressourcen. Ich musste zunächst einmal vieles aufholen, was ich im 9 Jahren Albertinum nicht gelernt habe. Ich hatte ja keine normale Kindheit und Jugend, mit Freundschaften, erster Liebe, sozialen Erfahrungen über das hinaus, was die gewaltkranke Internatsgemeinschaft zuließ. Nach meinem Wehrdienst habe ich studiert und dort erstmals Wertschätzung, Anerkennung und Erfolgserlebnisse erfahren. Das hat mir sehr geholfen, mein Leben einigermaßen zu meistern.

INPUT: Gibt es einen Grund, warum Sie erst nach Jahrzehnten mit den Vorfällen im Albertinum in Gerolstein an die Öffentlichkeit gingen? Hatte das etwas mit Ihrem praktizierten Beruf als Lehrer zu tun?

Marzellus Boos: Erst heute als Rentner habe ich die Zeit und den Drang, das aufzuarbeiten, was ich damals erleben musste. Diese Erinnerungsarbeit ist ein schwieriger Prozess. Aber seit ich mich öffentlich zu dem Thema priesterliche Gewalt äußere, haben sich wieder einige Leidensgefährten bei mir gemeldet, die  mich darin bestärken, das auszusprechen, was uns passiert ist. Ich habe auch Zuschriften bekommen aus anderen katholischen Heimen, wo es ähnliche Verhältnisse gab. Ich selbst führe seit zwei Jahren ein Erinnerungstagebuch, das mir dabei hilft, meine eigenen Kindheitstraumata zu verarbeiten.

INPUT: Haben Sie während Ihrer Zeit als Lehrer am Vinzenz-von-Paul-Gymnasium in Niederprüm oder am Regino-Gymnasium in Prüm Hinweise bekommen, dass es auch an den örtlichen Internaten sexuelle Misshandlungen oder andere Übergriffe gab?

Marzellus Boos: An meine Zeit als Lehrer am Vinzenz von Paul Gymnasium habe ich sehr positive Erinnerungen. Und ich will ausdrücklich betonen, dass ich die Ordenspriester in Niederprüm sehr schätze. Ich kenne auch ehemalige Niederprümer Internatsschüler, habe aber nie etwas gehört, was mit den Zuständen am Albertinum Gerolstein vergleichbar wäre. Die Atmosphäre im dortigen Kollegium habe ich als sehr freundschaftlich und wertschätzend erlebt. Zum Prümer Konvikt kann ich wenig sagen. Ich weiß nur, dass viele ehemalige Konviktler gar nicht richtig nachvollziehen können, was ich über das Gerolsteiner Internat berichtet habe, weil sie solche Erfahrungen nicht gemacht haben.

Zum Albertinum Gerolstein liegt seit Februar 2022 ein umfangreicher wissenschaftlicher Bericht über die Verbrechen an uns Kindern vor, in den die Erfahrungen von 54 Ehemaligen eingeflossen sind. Die traumatischen Kindheitserlebnisse haben für viele der Betroffenen bis heute nachhaltige Beeinträchtigungen zur Folge: psychisch belastende Erinnerungen, psychosomatische Folgen oder negative Auswirkungen auf das eigene Körpergefühl und die Sexualität sind nur einige davon.

Die Fragen stellte Heinz-Günter Boßmann

Link zum, Interview auf Input-Aktuell


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